Den Augenblick nicht verpassen

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13. Mai 2010
Amtmann Eichner

Auf dem Friedhof hat man genug Abwechslung, sagte ernst die in Dunkelgrün gekleidete Frau und schleppte ihren Rechen den Hang hinunter. Aus der Ferne wirkte das Gelände ruhig, doch die vielen dicken Bäume, das Zwitschern der Vögel, zwischen den grünen Blättern und lila Fliederbüschen, machten es lebendig. Ich wollte einen Spaziergang zwischen den Bäumen machen und es intensiver fühlen, bevor ich mit dem älteren Herrn sprach. Vor genau einem Jahr, im Mai, war ich hier und es dauerte lange, bis ich mich entschloss, ihn noch einmal zu besuchen. Ich konnte mich noch sehr genau erinnern, wie es im Zimmer aussah, in dem Haus am Eingang des Geländes. Ein altes Haus, mit alten Möbeln eingerichtetes Zimmer. Eine kleine Bürolampe spendete Licht auf die herumliegenden Blätter, sonst war es dunkel. Die Bäume draußen warfen Schatten auf die Fenster. Ich fragte den alten Kirchhofverwalter nach den Geschichten, die die Grabsteine beherbergten, glaubte einiges davon erraten zu haben. Da war ein Sohn, der 1918 in Frankreich gefallen war, der Vater starb 1931, dreizehn Jahre danach. Die Mutter lebte noch ganz lange, bis sie 1956 zu ihrer Familie gelegt wurde. Ich stellte mir vor, wie sie wohl die vielen Jahren allein gelebt hatte. Der alte Herr sagte, er sei schon sehr lange am Amt, seit 1956. Er kümmere sich seitdem um seinen Kirchhof, einen der ältesten in Berlin. 1818 wurde er angelegt, die Denkmale sind Kulturgut und sollen geschützt werden, es gibt nichts Vergleichbares mehr. Dass mit der Zeit auch eine Denkmalkultur verloren geht.
Er erzählte mir von der zweiten Familie, nach der ich fragte. Ein riesengroßes schwarzes Denkmal, beeindruckend durch seine Größe und seines Glanzes machte mich neugierig, was für Menschen es gewesen waren, die es ausgewählt hatten. Die Frau ist ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes zu Amtmann Eichner gekommen. Sie sagte, dass sie nicht gut schlafen könne, sie träume von ihrem Mann sehr oft. Er habe große Angst vor Wasser gehabt, als er noch lebte. Wie die Katzen wasserscheu sind, war er. Jetzt sage ihr Mann im Traum, dass er in seinem Grab ertrinke, und das habe sie sehr beängstigt. Die Frau hat geweint. Amtmann Eichner hat ihre Geschichte ernst genommen und fand heraus, dass das Regenwasser von dem naheliegenden Dach nicht richtig abgeleitet wurde und das Grab überflutete. Der Fehler in der Konstruktion wurde behoben. Dann war wieder Ruhe.
Mich hat die Geschichte sehr beeindruckt und ich wollte mich für ein ausführlicheres Gespräch vorbereiten. Wer über fünfzig Jahre der Endlichkeit menschlichen Lebens  so nah stand, hat viel miterlebt. Der Amtmann Eichner hatte viel zu erzählen. Vor allem beeindruckten mich seine Ruhe und die Würde, mit der er darüber sprach.
Als ich mit dem Amtmann Eichner redete, wusste ich noch wenig über ihn. Genau so, als ich vor zwei Tagen ihn besuchen ging. Ich habe mich nicht besser vorbereitet, ich ging vor zwei Tagen einfach zu dem Kirchhof und wollte hören, was er zu erzählen hat. Vielleicht war ich nicht bereit mich mit dem Thema auseinander zu setzten, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall sagte ich mir das ganze Jahr durch, ich gehe noch mal hin, aber ich habe es immer wieder aufgeschoben.
Die Tür des Hauses war geschlossen, es gab keine Klingel. Ich sah eine Frau in Arbeitskleidung, die das frische Gras entfernte, daneben eine volle Karre mit Unkraut. Ich ging auf die Frau zu und fragte nach dem Verwalter. Sie nannte mir einen Namen und sagte, er sei auf der unteren Allee, mit den anderen Arbeitern. Aber unter den Menschen dort, die ich bei meinem kleinen Gang zuvor gesehen habe, war er nicht. Ich entgegnete, ich möchte mit dem älteren Herrn sprechen. Da kam eine zweite Frau mit einem Rechen in der Hand und führte mich zum Amtmann Eichner. Er lag an der zweiten Allee, den Hang hoch, auf der linken Seite, wo seine Frau und seine Tochter begraben sind. Ich erfuhr, dass er im Herbst vergangenen Jahres gestorben ist.
Heute weiß ich viel über ihn, ich habe recherchiert. 86 Jahre hat er ergelebt. Nur sprechen konnte ich ihn nicht mehr.

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